Aufnahme von Schülern in weiterführende Schulen
Anmerkung zu einem Beschluss des Verwaltungsgerichts Leipzig
Das Verwaltungsgericht Leipzig hatte in dem Beschluss vom 30. August 2012 (Aktenzeichen 4 L290/12) über mehrere Kapazitätsklagen zu befinden. Eltern begehrten für ihre Kinder die Aufnahme in ein in Leipzig sehr beliebtes Gymnasium.
Dr. Susanne Pohle
Rechtsanwältin, Fachanwältin für Verwaltungsrecht
Die eingeleiteten Eilverfahren hatten Erfolg, da nach Auffassung des Verwaltungsgerichtes die von der Schulleiterin getroffene Auswahlentscheidung ermessensfehlerhaft war.
Kriterium »Zwillinge«
Der Beschluss ist deswegen bemerkenswert, da neben den üblichen von den Schulen gewählten Auswählkriterien ein neues Kriterium rechtlich überprüft wurde. Auswahlkriterium für die Aufnahme in die Klasse 5 an dem streitgegenständlichen Gymnasium war neben den Kriterien »Geschwisterkinder« und »Kinder mit Integrationsstatus« auch das Kriterium »Zwillinge«. Die Schulleiterin vertrat die Auffassung, dass Zwillinge per se Geschwisterkinder seien. Mit der Aufnahme von Zwillingen sei beabsichtigt gewesen, Geschwisterkindern den gemeinsamen Schulbesuch zu ermöglichen, und zwar nicht nur in den Fällen, in den bereits ein älteres Geschwisterkind an der Schule unterrichtet wird, sondern auch in den Fällen, in denen beide Geschwister zeitgleich an der Schule zur Beschulung von den Eltern angemeldet werden. Die Anmeldung von Zwillingen wurde somit der Anmeldung von anderen Geschwisterkindern an der Schule gleichgestellt.
Nach Auffassung des VG Leipzig verstößt diese Bevorzugung von Zwillingskindern gegen Artikel 3 Grundgesetz. Das Kriterium Zwillinge knüpfe bei den aufgenommenen Zwillingspaaren im Unterschied zu dem Kriterium Geschwisterkind nicht an den Sachverhalt an, dass eines von beiden Geschwistern bereits an dieser Schule aufgenommen worden ist. Vielmehr wurden diese unabhängig davon privilegiert. Ziel sei es, dass beide Zwillinge aufgrund ihrer emotionalen Bindung nicht getrennt, sondern zur gleichen Zeit in die selbe Schule aufgenommen werden sollen. Diese Differenzierung zwischen Zwillingen und anderen Kindern sei jedoch sachlich nicht gerechtfertigt.
Auswahlverfahren
Die Entscheidung des VG Leipzig gibt Anlass kurz darzulegen, woraus sich der Anspruch auf Aufnahme in die weiterführende Schule ergibt. Dabei wird sich exemplarisch auf die Rechtslage in Sachsen bezogen.
Nach § 34 Abs. 1 S. 1 Schulgesetz Sachsen entscheiden über alle weiteren Bildungswege im Anschluss an die Grundschule die Eltern auf Empfehlung der Schule. Das durch Art. 6 Abs. 2 Satz 1 GG, Art. 101 Abs.2 Sächsische Verfassung begründete Wahlrecht umfasst dabei grundsätzlich auch das Recht auf Zugang zu einer bestimmten Schule, jedoch nur im Rahmen der bestehenden Kapazitäten. Insoweit bestimmt § 3 Abs. 3 1. Hs. Schulordnung Gymnasien, dass der Schulleiter im Rahmen der verfügbaren Ausbildungsplätze über die Aufnahme von Schülern in die Klassensrufe 5 entscheidet. Übersteigt jedoch die Zahl der Aufnahmeanrräge die Kapazität der Schule muss in einem Auswahlverfahren unter Berücksichtigung des Gleichheitssatzes nach sachgerechten Kriterien darüber entschieden werden, welche der Bewerber die freien Plätze erhalten. Das SächsOVG hatte in einer Entscheidung vom 19.08.2011 zu Az.2 B 158/11 noch einmal für Sachsen ausgeführt, welche sachgerechten Kriterien anzuerkennen seien. Danach sind sachgerechte Kriterien neben dem Zufallsprinzip. die zeitliche Dauer des Schulweges, die Berücksichtigung des Umstandes, dass bereits ein oder mehrere Geschwister des Aufnahmebewerbers an der Schule unterrichtet werden, sowie die Berücksichtigung von eng umgrenzten Härtefällen.
Sachgerechte Kriterien
OVG Sachsen, Beschluss vom 19.8.2011 , Az.: 2 B 158/11: »Sachgerechte Kriterien sind dabei neben dem Zufallsprinzip die zeitliche Dauer des Schulwegs, die Berücksichtigung des Umstands, dass bereits ein oder mehrere Geschwister des Aufnahmebewerbers an der Schule unterrichtet werden, sowie die Berücksichtigung von eng umgrenzten Härtefällen. Ebenso kann wohl das Kriterium Leistung herangezogen werden. …
Der Senat kann offen lassen, ob das Kriterium »Länge des Schulwegs« die Auswahlenfscheidung schon deshalb nicht trägt, weil das Kriterium unbestimmt ist. Bereits aufgrund der abweichend formulierten Zusätze – zeitlicher Bedarf für den Schulweg von höchstens 60 Minuten einerseits und Einzugsgebiet andererseits – ist für die betroffenen Eltern und Schüler nicht eindeutig erkennbar, wie das Kriterium »Länge des Schulwegs« letztlich zu verstehen ist. Hinzu kommt die tatsächliche Handhabung des Kriteriums durch die Schulleiterin: Nach dem Vortrag des Antragsgegners hat die Schulleiterin nach dem Schulwegkriterium zunächst alle im Postleirzahlbezirk … wohnende Aufnahmebewerber ausgewählt, wobei ihr der Posdeitzahlbezirk »als Orientierung für den jeweils zu bewältigenden Schulweg« gedient habe. Die Schulleiterin sei davon ausgegangen, dass »der Schulweg aufgrund der Randlage des … schwieriger zu bewältigen« sei als für Bewerber, die eine bessere Verkehrsanbindung hätten. Daraus könnte zu entnehmen sein, dass mit »Länge des Schulwegs« ein für jeden Bewerber möglichst kurzer, bei höchstens 60 Minuten liegender Schulweg gemeint ist und die Aufnahmebewerber aus dem Postleitzahlbezirk … deshalb ausgewählt wurden, weil ihr Weg zum nächstgelegenen Gymnasium länger ist als für stadnäher wohnende Bewerber.
Eine solche Anwendung des Schulwegkriteriums als erstem Auswahlkriterium würde indes dazu führen, dass die nachrangigen Kriterien leerliefen. Der Senat legt das Kriterium daher mit Blick auf seine Rechtsprechung zur Zumutbarkeit von Schulwegen dahingehend aus, dass danach alle Bewerber am Gymnasium D. aufgenommen werden sollen, die kein anderes Gymnasium innerhalb von 60 Minuten erreichen können. Hiervon geht letztlich auch der Antragsgegner aus: Nach seinen Ausführungen in der Beschwerdeerwiderung wollte die Schulleiterin den Wohnort und den damit verbundenen Schulweg bzw. die Dauer des Schulwegs berücksichtigen. Dadurch habe sie sicherstellen wollen, dass kein Schüler abgelehnt werde, der keine andere Schule innerhalb von 60 Minuren erreichen könne; deshalb habe sie das Kriterium näher definiert, indem sie den Klammerzusatz »zeitlicher Bedarf für den Schulweg max. 60 min« hinzugefügt habe.
Das so ausgelegte, am zeitlichen Bedarf für den Schulweg von höchstens 60 Minuten ausgerichtete Kriterium »Länge des Schulwegs« ist zwar sachgerecht. Die Schulleiterin hat das Kriterium jedoch nicht zutreffend angewandt, weil sie Bewerber aufgenommen hat, die das Gymnasium D. in weniger als 60 Minuten erreichen können. Da sämtliche Aufnahmebewerber, auf die die von der Schulleiterin in dieser Reihenfolge angewandten nachrangigen Auswahlkriterien »Geschwisterkinder«, »Härtefälle (Schüler mit sonderpädagogischem Förderbedarf)«, »Leistungsdurchschnitt 1,0 in den Fächern Mathematik und Deutsch (laut Bildungsempfehlung)« sowie »Fremdsprachenwahl« zutrafen, aufgenommen wurden, standen für das anschließend gemäß dem Kriterienkatalog zur Vergabe der restlichen Ausbildungsplätze durchzuführende Losverfahren nicht lediglich 18 Plätze, sondern mehr als 50 weitere Plätze Verfügung. Diese hätten in das Losverfahren einbezogen werden müssen, was nicht geschehen ist.«
Ermessensfehler
Das VG Leipzig hat zu Recht die Auffassung vertreten, die von der Schulleiterin getroffene Auswahlentscheidung sei ermessensfehlerhaft. Denn die vorab aufgenommenen Zwillingskinder hatten zum großen Teil gerade keine weiteren Geschwisterkinder an der streitgegenständlichen Schule; d.h. das jedenfalls in der Rechtsprechung anerkannte Auswahlkriterium Geschwisterkind liegt gerade nicht vor. Die Differenzierung zwischen Zwillingen und den anderen Kindern ist jedoch sachlich nicht gerechtfertigt. Zwar würde die gleichzeitige Aufnahme von beiden Zwillingskindern an ein und derselben Schule wie bei den Geschwisterkindern zu erheblichen Zeiteinsparungen für die Eltern führen und auch deren Kontakt zur Schule erleichtern. Dieser Zweck wird auch dann erreicht, wenn ein Zwillingspaar gemeinsam an einer anderen Schule, z.B. an der ihres Zweitwunsches, aufgenommen werden kann. Dem Ziel der Privilegierung von Zwillingen diese aufgrund der emotionalen Verbundenheit nicht zu trennen, kann im Rahmen des Auswahlverfahren dadurch Rechnung getragen werden, dass z.B.beide Zwillinge zusammen einen Losplatz erhalten.
Kriterium »Geschwister«
Es sei jedoch an dieser Stelle angemerkt, dass auch Zweifel an der rechtlichen Akzeptanz des Auswahlkriteriums Geschwisterkind; d.h. die Zulässigkeit der bevorzugte Aufnahme eines Kindes an einem Gymnasium, wenn dieses Kind bereits Geschwister an dem Gymnasium hat, bestehen (vgl. auch OVG Bremen NVwZ 2003, 122, Niehues Schulrecht 4. Auflage S. 170). Das SächsOVG begründet diese Differenzierung damit, dass Eltern die zwei oder mehrere Kinder an einer Schule haben, da sie ihre Kinder nur einmal zur Schule bringen und abholen müssten,eine erhebliche Zeitersparnis hätten. Auch müssten schulische Veranstaltungen wie Elternsprechtage nicht doppelt besucht werden (vgl. Sächsisches OVG Al. 3 B 3 16/08).
Diese Argumente überzeugen jedoch nicht. Schüler des Gymnasiums, anders z.B. als bei Grundschulen, werden zum überwiegenden Teil nicht mehr von den Eltern zur Schule gefahren werden, sondern gelangen selbst mittels öffentlicher Verkehrsmittel oder eines Fahrrades zur Schule. Erfahrungsgemäß finden Elternsprechtage bezogen auf die jeweiligen Jahrgangsstufen und nicht bezogen auf die gesamte Schule statt, so dass auch insoweit das Sächsische OVG irrt, wenn es behauptet, Eltern mit Geschwisterkindern hätten eine Zeitersparnis. Zudem ist festzustellen, dass es sich bei Gymnasien um allgemeinbildende Schulen handelt, so dass Geschwisterkinder in verschiedenen Schulen die gleiche Ausbildungerhalten können. Folglich verstößt die pauschale Differenzierung zwischen Geschwisterkindern und anderen Schülern, die dazu führt, dass die Chancen von Bewerbern, ein Bildungsangebot ihrer Wahl wahrzunehmen, deutlich geringer sind, wenn sie sich nicht darauf berufen können, dass bereits ältere Geschwister die gewählte Schule besuchen, gegen Artikel 3 Grundgesetz (OVG Bremen a.a.O.). Nach allgemeiner Auffassung reicht es nicht aus, dass ein sachlicher Grund für die Ungleichbehandlung vorliegt, dieser muss vielmehr auch gewichtig genug sein, die Differenzierung zu rechtfertigen (vgl. statt vieler Maurer, Staatsrecht 1999, S.263). Es mag sachliche Gründe für die Ungleichbehandlung von Eltern mit Geschwisterkindern und Eltern ohne Geschwisterkinder geben. Die vom Sächsischen OVG in seiner Entscheidung aufgeführten Gründe können nach diesseitiger Auffassung nicht ausreichen, um das Tatbestandsmerkmal der Gewichtigkeit zu bejahen.
Fazit
Übersteigt die Zahl der Schüler, die eine bestimmte weiterführende Schule besuchen möchten, die Kapazität der Schule, sind bei der Auswahl der Schüler gesetzlich vorgegebene Kriterien zugrundezulegen. Fehlen gesetzliche Vorgaben, muss die Schulleitung sachgerechte Kriterien anwenden. Zwillinge sind dabei der Rechtsprechung in Sachsen zufolge nicht wie Geschwisterkinder zu behandeln. Die Rechtsprechung akzeptiert das Aufnahmekriterium »Geschwister« als sachgerechtes Kriterium. Der Argumentation der Gerichte zur Aufnahme von Zwillingen folgend können dagegen aber in Sachsen Bedenken geltend gemacht werden. Diese Bedenken sind allerdings in Bundesländern wie Nordrhein-Westfalen gegenstandslos, die das Kriterium »Geschwisterkinder« ausdrücklich im Gesetz (Ausbildungsordnungen Primarstufe und Sekundarstufe l) nennen und damit die bevorzugte Aufnahme von Geschwisterkindern ermöglichen. Die Aufnahme von Zwillingen ist möglich, darf aber nicht ohne Weiteres mit der bevorzugten Aufnahme von Geschwisterkindern begründet werden.
Quelle SchuR 1-2|2013